MAGAZIN | Freitag, 23. November 2001 |
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baltikummer
DAS VERKAUFTE VOLK
ALLE ESTEN SOLLEN ZUM GENTEST, DAMIT DER STAAT MIT IHREM ERBGUT GELD VERDIENEN KANN. WIDERSTAND GIBT ES KAUM. WER NICHT MITMACHT, GILT ALS SCHLECHTER PATRIOT. VON
FOTOS: JURI VENDELIN
Das Haus steht am Strand von Puhtu. Im Frühjahr ist es umgeben vom pastellfarbenen Glanz der Ostsee, wo die Singschwäne tuten und Eisschollen das Meer mit einem arktischen Horizont umsäumen, im Sommer gestreift vom Schatten verwitterter Buchen.
Puhtu, die estnische Halbinsel, auf der das erste aller Schiller-Denkmäler ein wenig schief aus dem Waldboden ragt, wo die Fähren zu den stillen Inseln Muhu und Saaremaa gehen, liegt im Norden des Landes. Und wie Puhtu die Schönheit der Natur in diesen Breiten verkörpert, wo man die Holzfeuer des Ostens zu riechen meint und die Feuchte seiner Waldwiesen, so verkörpert das Haus am Strand die estnische Naturphilosophie.
Es hat, wie die Halbinsel überhaupt, Baron Jakob von Uexküll gehört, dem deutsch-bal-tischen Verhaltensforscher, dessen Denken heute romantisch anmutet und esoterisch - auch wenn er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts so berühmt war wie dieser Tage Richard Dawkins, der Erfinder des "egoistischen Gens". Uexküll (1864-1944) hielt Lebe-wesen nicht für raffinierte Maschinen, die von ihren Erbanlagen unabänderlich programmiert sind, letztlich also durch Technik ersetzt werden können, sondern für Subjekte mit autonomer Innenwelt.
Und doch ist ausgerechnet Uexkülls Heimat die Bühne, auf der das derzeit ehrgeizigste Projekt der Gentechnik vorangetrieben wird: Die Regierung der Republik Estland hat beschlossen, das Erbgut ihres Volkes in einem groß angelegten Screening zu durchleuchten, zu entschlüsseln, zu speichern und an die Börse zu bringen. Und so wurde ein hypermoderner Zweckbau in Tartu zum Gegenbild von Uexkülls romantischem Strandhaus: das Molekularbiologische Zentrum an der Ria-Straße, gerade fünf Jahre alt, Türen aus Glas, nur mit Zugangscode zu öffnen, ein Elfen-beinturm der höchsten Sicherheitsstufe. 170 Genetiker arbeiten hier; im Keller, aus sterilen Brutkästen, liefert die Firma Mice & More Versuchstiere mit manipuliertem Erbgut in die ganze Welt.
Estland verkörpert wie kein anderes Land den Stand der Auseinandersetzung zwischen Gegnern und Befürwortern der Biotechno- logie. Hier prallen die Lehrmeinungen aufeinander, die das 21. Jahrhundert prägen, Menschen von Zuschauern zu Betroffenen machen werden: Was ist ein Organismus? Wie lässt sich Lebendiges verändern und her- stellen? Brauchen wir überhaupt noch eine natürliche Welt? Nicht in Harvard werden diese Fragen entschieden, auch nicht in Edin-burgh, wo das Klonschaf Dolly entstand. Sondern in Estland. In der alten Universitäts-stadt Tartu - ehemals Dorpat - mit ihrer Symbiose aus russischen Holzhäusern, klassizistischem Uni-Tempel, dem Markt in preußischem Stil und toskanischen Farben, ihren ersten Bürogebäuden aus Stahl und Glas. Estland ist eine Zone der Gemenge und Gemische von jeher. Einst Ostseeprovinz des russischen Reiches, wo sich Politik, Philoso-phie und Religionen kreuzten, verschoben, umklammerten, befruchteten. Heute ist das Land so etwas wie ein Schlüsselloch zur Zukunft. Nicht wenige gelüstet es, hier einen Blick hindurchzuwerfen.
"Craig Venter hat behauptet, er habe das Genom dekodiert", sagt der medizinische Leiter des Screening-Projekts, Andres Metspalu, "aber wir wissen noch nicht, was die Sequenzen bedeuten. Das Erbgut ist nicht entschlüsselt, nur beschrieben." Den fehlenden Generalschlüssel will er nun liefern. Metspalu, 50, lehnt entspannt hinter seinem Schreibtisch. Gestutzter Vollbart, füllig, gemütlich und sie- gesgewiss. Genau was das junge Land mit seinen rund 1,5 Millionen Einwohnern braucht, die Simulation einer ehrwürdigen intellektuellen Elite. Ein Mann mit einem Auftreten, als habe er schon immer alles richtig gemacht.
Im Januar beschloss das Parlament in Tallinn ein Gesetz, das die Details des Screenings festlegt. 16 Seiten. Die umfangreichste Regelung der Welt. Angeblich hat Kanzler Schröder den Text schon für sich übersetzen lassen. Die Teilnahme am Projekt ist für jeden Bürger freiwillig. Eine zentrale Datenbank wird mit Namen und Gensequenzen der Spender gefüttert. Eine Firma darf die gewonnenen Codes anonymisiert an Forscher weitergeben und an interessierte Unternehmen - in erster Linie Pharmafirmen - verkaufen. Bisher allerdings hat das Projekt nur Geld gekostet. Im vergangenen Jahr zahlte die Regierung eine viertel Million Mark. Ohne Staat kein Start-up.
Allein für den zum Herbst geplanten Groß-versuch mit 10000 Teilnehmern soll jeder Arzt zweihundert Kronen erhalten, etwa 25 Mark pro Patient. Im Herbst 2002 werden sie dann allen, die dazu bereit sind, Blut abzapfen und die Spender über ihre Krankheiten, Hobbys und Talente ausforschen. Der Widerstand gegen das estnische Projekt ist schwach. In Fernsehspots und der seit Mai erscheinenden Geenileht (Gen-Zeitung) wird immer wieder der Enthusiasmus der Esten für die große Blutspende beschworen. Doch kaum ein Bürger vermag wirklich zu beurteilen, was vor sich geht.
"Wer informiert ist, arbeitet für das Genom-Konsortium", sagt Valdar Parve, 51. Der Philosoph an der Universität Tartu ist Mitglied der offiziellen Ethikkommission, in der die patriotische Grundeinstellung überwiegt; das Gremium hat dem Massentest bislang jedenfalls keine Hindernisse in den Weg gestellt. Parve treuherzig: "Ich werde gern mein Blut hergeben, wenn ich sowieso mal zum Arzt muss."
Wer am Screening teilnimmt, ist Patriot. Kritiker scheuen sich, ihre Befürchtungen öffentlich zu machen. Wie sagte ein junger Wissenschaftshistoriker, der seinen Namen nicht genannt wissen möchte: "In Estland würde niemand Anstoß nehmen, wenn ein Mensch geklont wird. Wir sind jetzt, würde es heißen, ein freies Land." Die Organisa-toren des logistischen Kraftakts rechnen mit einer Beteiligung von zwei Drittel aller Esten. Die unverwechselbaren Merkmale in ihrer DNA, dem Erbgut, sollen mit ihren aktuellen Eigenschaften abgeglichen werden.
Damit wollen die Forscher eine Ver- bindung herstellen zwischen Genen und individuellen Merkmalen: Sie suchen die Se- quenzen für Asthma oder Diabetes, für die Neigung, an Schnupfen zu erkranken, für sportliche Leistungskraft oder den Hang zur Schwermut. Zwar hat das Erbgut aller Menschen den gleichen Aufbau. Doch der Code für bestimmte Eigenschaften, etwa die Haarfarbe, sieht bei jedem ein wenig anders aus. Nur deshalb, glauben die Genetiker, sind wir unverwechselbare Individuen. Kennen wir diese minimalen Differenzen im Erbgut, wissen wir auch, warum der eine Mensch schneller erkrankt als der andere oder warum dieser zu geistigen Glanztaten neigt, jener zu Drogenkonsum und der Dritte zu lateinamerikanischen Tänzen.
Im Unterschied zum 1996 gestarteten Genomprojekt in Island, wo die Firma Decode Genetics mit Beteiligung des Pharmariesen Roche dabei ist, das Erbgut von 300000 Inselbewohnern zu analysieren, sollen in Estland mehr als dreimal so viele Spender ge- testet werden. Zudem entsprechen die Esten, anders als die genetisch sehr homogenen Isländer, ziemlich genau dem erbbiologischen Mischmasch, wie er in Europa verbreitet ist - also genau dem Spektrum von Eigenschaften, für das sich die Pharmaindustrie interessiert.
Die Arzneimittelhersteller träumen von etwas, das heute noch wie ein Paradox anmutet: von der individualisierten Allgemeinmedizin. Würde man alle genetischen Variationen kennen, die bei Menschen vorkommen, könnte man dieselbe Pille in unterschiedlichen Versionen auf den Markt bringen, Wirkstoffe in der effektivsten Kombination verabreichen, an den Genotyp des Patienten angepasst.
"Ein herkömmliches Medikament wirkt im Schnitt nur bei dreißig Prozent der Behan-delten", erklärt einer der beteiligten Ärzte. "Bei einem Zehntel dagegen bringt es mehr Schaden als Heilung." Das Ziel sind maßgeschneiderte Mittel gegen Massenleiden wie Asthma oder Bluthochdruck. Damit ließe sich Geld verdienen. Viel Geld. Sehr viel Geld. Estnische Gene sollen in Zukunft ein Label sein, so anerkannt wie finnische Telefone. "Wir wollen unser eigenes Nokia", lautet der Slogan der Bio-Patrioten. Neben Estland und Island planen Forscher mittlerweile auch in England einen Genversuch, an einer halben Million Probanden. Und eine australische Firma hat das Erbgut der Tonga-Inseln gekauft. Alle, auch Andres Metspalu, der finanziell am Genkonsortium beteiligt ist, sehen riesige Gewinne voraus. Sie haben Blut geleckt.
Die derbe Metapher würde von den Inves-toren selbstverständlich niemand in den Mund nehmen, aber Endel Lippmaa wäre es zuzutrauen. Endel Lippmaa ist gefährlich klug. Er ist Quantenchemiker, Chef des Instituts für chemische Physik in der Hauptstadt Tallinn. Zu Sowjetzeiten besaß Lippmaa jedes wichtige Gerät zuerst. Oft noch vor den Unis im Westen. Er organisierte subversive Skicamps, auf denen Biologen wissenschaftliches Englisch lernten. Und nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 - die Esten sagen Befreiung - war er für ein paar Jahre Europaminister seines Landes. Für den 71-Jährigen mit dem wachen Blick ist das Genomprojekt nur "die verspätete Kopie eines schlechten Vorbildes. Ich nenne es die Vampir AG. Was ist es denn sonst? Ein Handel mit Blut und Krankenakten." Gerade hat der Naturwissenschaftler die Börsenwerte des isländischen Genomprojekts nachge- lesen. Decode Genetics versinkt Tag für Tag tiefer in der Wertlosigkeit. Seit Februar hat es der Kurs nicht mehr über die Zehn- Dollar-Marke geschafft. Lippmaa lächelt fein: "Decode wird Pleite gehen und das ge- schieht ihnen recht. Menschen sind keine Bakterien", sagt er.
Das Fiasko von Decode beruht indes nicht einfach darauf, dass man Bakterien als Ver-suchsobjekte benutzen darf und Menschen nicht. Es hat vor allem damit zu tun, dass höher entwickelte Lebewesen anders funktionieren als Mikroorganismen. In dem kleinen Ostseestaat weiß man das seit Generationen.
Es ist die eigene Wissenschaftsgeschichte, die in Estland mit den Paradigmen der modernen Biotechnologie zusammenprallt. Dabei scheint es, als hätten die ständige politische Bedrohung, der schockartige Wechsel von einem halben Dutzend politischer und kultureller Systeme innerhalb von hundert Jahren die Naturphilosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts hier gleichsam gefriergetrocknet. In Estland vereinigt sich die klassische Biologie, für die der lebende Organismus im Mittelpunkt stand, mit der biologischen Systemtheorie, die den Menschen - wie die Natur insgesamt - als Ensemble einander gegenseitig beeinflussender Elemente begreift. Die Gesamtschau alles Lebendigen als großes System, das aus dem Zusammenwirken vieler kleiner biologischer Systeme entsteht, sich aber nicht darauf reduzieren lässt, ist die einzige echte Alternative zur vorherrschenden gentechnischen Auffassung. Die empirische und zugleich ganzheitliche Betrachtungsweise, genannt Biosemiotik (Semiotik = Bedeutungslehre), hat hier, am Strand von Puhtu ihren Ausgangspunkt.
Sie geht zurück auf den biologischen Baron Jakob von Uexküll. Bei uns als kurioser Zeckenforscher in die Schulbücher abgeschoben, entwickelte er zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine "Bedeutungslehre der Natur". Er fasste Lebewesen weder als ferngesteuerte Uhrwerke auf, wie es Evolutionsbiologen vom Typ Richard Dawkins tun, noch nahm er zu einer übernatürlichen "Lebenskraft" Zuflucht. Von der sprachen die Vitalisten und meinten damit eine naturwissenschaftlich nicht fassbare Energie, die gottgleich in alle Lebensvorgänge eingreift. Uexküll ging einen dritten Weg: Seiner Auffassung nach entfalten sich Organismen durchaus nach Zielen, die in ihrem Bauplan festgelegt sind. Aber gerade indem sie diesen Vorgaben folgen, beweisen sie eine Eigenständigkeit gegenüber äußeren Einflüssen, die sie aus der bloßen mechanischen Kausalität befreit. Indem sie - ein klares Ziel ansteuernd, jedoch bei freier Wahl des Kurses - den Gesetzen ihres Körpers gehorchen, verhalten sie sich der Umwelt gegenüber als eigenständige Subjekte.
Die Biosemiotik des großen Esten ist eine schwierige Theorie. Und darin liegt das Problem. Sie ist um Klassen komplizierter als die Genetik, denn sie zwingt zum Umden-ken: Ein Lebewesen ist kein Mechanismus, der sich in einer feindlichen Welt behaupten muss, indem er möglichst effizient, also linear, funktioniert, sondern operiert in einem kreisartig geschlossenen Prozess. Leben ist für die Biosemiotiker das Bestreben eines komplexen Zusammenhalts, dem an seinem Fortexistieren gelegen ist, auch in Zukunft eine Einheit zu bilden. Diese andauernde Behauptung einer geschlossenen Struktur hat eine Reihe von Konsequenzen: Auf den Organismus wirkt keine objektive Realität ein. Er ist nicht zwanghaft von den physikalischen Gesetzen seiner Außenwelt vorher-bestimmt, sondern folgt seinem inneren Antrieb, sich als körperliche Einheit zu verwirklichen. Alle Einflüsse - seien es die der Gene oder der Umgebung - werden diesem Ziel der Selbsterhaltung gemäß interpre- tiert. Ein unterernährtes Bakterium wird auf eine Zuckerkonzentration zuschwimmen, für ein sattes ist sie irrelevant. Das Bakterium handelt, um sich als lebende Einheit zu er-halten. Das entspricht ganz und gar nicht der westlichen Denktradition, wo es klare Ursachen und Wirkungen zu geben hat, Akteure und Hintergrund, Schuldige und Unschuldige.
Und doch hat die Biosemiotik einen deutlichen Vorteil: Sie entspricht dem vernetzten Miteinander, wie es die Reaktionen in einer lebenden Zelle darstellen. Das lineare Verständnis des genetischen Einflusses hingegen macht es eher schwierig, diese Vorgänge zu begreifen. Endel Lippmaa: "Die Auffassung, ein Gen steuere ein Protein, ist absolut dämlich. Denken Sie an Schizophrenie. Dafür sind bisher 14 Gene bekannt; sie definieren Millionen von Proteinen - wie wollen Sie die von außen beeinflussen?"
Erst das geordnete Zusammenspiel der Unzahl winziger Bausteine macht die Dy- namik des Lebendigen aus. Viele innere Vorgänge sperren sich prinzipiell gegen jede Berechnung. Sie sind "inkompressibel": Die kürzeste mathematische Beschreibung des Vorgangs ist der reale Vorgang selbst. Die Entstehung eines Keims und die Entwicklung zum Fötus lassen sich auf keinem denkbaren Computer simulieren, auch in Zukunft nicht, sagt Lippmaa.
"Stellen Sie sich vor, ein Organismus wäre ein Staat", verdeutlicht er, "dann könnte man die Gene mit der Verfassung vergleichen. Die Proteine wären die Gesetze. Die Glyko- proteine die Verwaltungsvorschriften. Lipide, Zucker, all die kleinen Moleküle auf der Zelloberfläche stünden für Überweisungen, Briefe, Quittungen und so fort. Nun können Sie aber von der Verfassung nicht darauf schließen, wie eine Steuererklärung richtig ausgefüllt werden muss. Und um Überweisungen anders auszuführen, müssen Sie nicht die Verfassung umstürzen." Der Papierkram des täglichen Lebens erledigt sich sozusagen von selbst - ohne übermächtiges Regulativ, ohne Paragrafen und Vorschriften.
Das ist der Kern des fundamental anderen Denkansatzes der Biosemiotiker. Sie sehen die Zelle nicht als Maschine, sondern als Prozess, der im steten Wandel seine eigene Selbst- erhaltung bewirkt. Leben ist für sie nicht die Blaupause, auf der alle Anweisungen ge-schrieben stehen. Leben, dieses konkrete Gelklümpchen Zelle, das sich in seiner hoch entwickelten Architektur beständig selbst neu erschafft, ist nach ihrer Auffassung vor allem eines: das Bemühen um Identität.
Endel Lippmaa leitet aus dieser Erkennt-nis zugleich eine Warnung ab: Wenn der Organismus nur semiotisch zu verstehen ist, als Zeichen in einem existenziellen Sinn- zusammenhang, dann müssen gentechnische Eingriffe - die Umgruppierung einzelner Buchstaben ohne Rücksicht auf das Satzge-füge - zur Katastrophe führen. "Wir haben nicht das richtige Verständnis von Organismen", meint er, "um sie ohne Schaden zu optimieren. Wir pfuschen an ihnen herum, ohne wirklich zu verstehen, was wir tun." Ein blindes Stochern mit oft tödlichen Folgen: "Wenn Sie die Gene verändern und Mutanten klonen, müssen Sie alles, was schief geht, abtreiben und zerstören", sagt Lippmaa. "Für das Klonen von Menschen brauchen Sie Hunderttausende Menschenversuche."
Bei Schafen ist bislang nur etwa einer von tausend künstlichen Föten lebensfähig - der Rest wandert in den Müll. Ein Versuch in den USA, Parkinson-Kranken embryo- nale Stammzellen ins Hirn zu spritzen, führte zur Wucherung riesiger Tumore. "Wenn wir wirklich mit Eingriffen ins Erbgut beginnen, bekommen wir zwangsläufig eine totalitäre Gesellschaft, Eugenik. Uns erwarten Szenarien, schlimmer als die schlimmsten Albträume von Hollywood", glaubt Lippmaa. "Was das bedeutet, weiß ich. Ich habe unter zwei Diktaturen gelebt."
Zwar hat das estnische Projekt mit dem Klonen von Menschen vorerst nichts zu tun. Noch geht es um Kenntnis des Erbguts, nicht um Veränderung. Doch schon der Einblick wird Folgen haben. Projektleiter Metspalu gibt unumwunden zu, wie sehr sich unser Leben ändern wird, wenn erst die DNA-Sequenz jedes Versicherten auf Krankenkas-senchips gespeichert ist: "Die Versicherungen steuern künftig unsere Existenz mit Maß-nahmen zur Prävention. Wie beim An-schnallen: Falls Ihr Gentest ein besonderes Krebsrisiko ergibt und Sie rauchen trotzdem, müssen Sie die Behandlung selbst bezahlen."
Uexkülls Biosemiotik findet heute ihre Fortsetzung am semiotischen Institut der Universität Tartu - neben Paris der einzigen Fakultät Europas, in der diese Lehre schon seit den sechziger Jahren auf dem Lehrplan steht. Auch für den Biologen Kalevi Kull, 49, haben die Erbanlagen nur eine relative, keine absolute Bedeutung. Er gilt mittlerweile als einer der führenden Biosemiotiker der Welt. Gene sind für ihn lediglich Buchstaben, Zeichen mit einer Bedeutung - und keine Weichen, Ventile, Stellschrauben oder Schal-ter mit zwingender, determinierender Kraft. Der Sinn eines Gens hängt vom Einfluss der Außenwelt ab und vom Zustand der jeweiligen Zelle: In der sind immer nur einige wenige Gene aktiv, und auch das nur zu bestimmten Zeiten. Ein "Alkoholiker-" oder ein "Krebs-Gen" würde so zu einem Code unter vielen. Und nur alle zusammen können die Gesamtheit des lebenden Körpers beschreiben. Ein Gen-Screening allein wird also niemals verlässliche Resultate liefern, mit denen sich komplexe Eigenschaften begreifen, geschweige denn beeinflussen lassen.
Dass wir heute dennoch so fest an die Gene glauben, ist laut Kull Ergebnis von zweihundert Jahren Kulturgeschichte. "Charles Darwin", sagt er, "hat gesiegt" - vorerst. Zu seiner Zeit, im 18. Jahrhundert, stand das noch nicht fest. Damals hatte der große Naturforscher einen ebenso großen Gegenspieler: Karl Ernst von Baer. Auch von Baer (1792-1876) stammte aus Estland. Der deutsch-baltische Geologe und Biologe be-reiste Russland, beschrieb als Erster den Permafrostboden, entdeckte 1827 die Eizelle der Säugetiere und begründete die Entwick-lungsbiologie. Ein Humboldt des Nordens. Für Baer stand der konkrete Organismus im Mittelpunkt, nicht eine abstrakte Einheit wie die Art.
Baer studierte in Tartu, lebte und arbeitete später als Emeritus in einer hölzernen Villa auf dem parkartigen Campus der Universität. Hier konnte er vom Arbeitszimmer die Studenten sehen, die an lauen Frühlingsabenden unter den Bäumen zechten.
"Hätte nicht der wirtschaftliche Liberalis-mus mit seinem Konkurrenzdenken das 19. Jahrhundert geprägt", glaubt Kalevi Kull, "stünde heute vielleicht Baer und nicht Darwin als Schlüsselfigur der Biologie da. Ihr zentrales Thema wären Ganzheit und Symbiose, nicht Konkurrenz." Biologen würden untersuchen, warum Zehntausende verschiedener Substanzen im geschlossenen Topf einer einzigen Zelle einen geordneten Prozess bilden und keine chaotische Brühe. Stattdessen verfolgen sie, wie ein Gen ein Enzym anschaltet - was etwa der Frage nach der Form einer Nudel entspricht, aber nicht den Vorgang des Kochens erklärt.
Kull nutzt jeden freien Tag, um der Stadt zu entkommen. Sein Wochenendhaus, ein uraltes ehemaliges Gehöft im hügeligen Karula, vielleicht achtzig Kilometer südlich von Tartu, gehörte der Familie über Gene-rationen. Seit dem Ende der Sowjetherr-schaft hat Kull es wieder. Scheune und Wohngebäude sind aus Holz, ausgebleicht, eingeduckt in die Landschaft. Hinter dem Haus wiegt sich der Birkenwald. Ein See, eine gewaltige Biberburg. Das Eis über dem schwarzen Wasser taut in kompakten ver-tikalen Nadeln. Versunken taucht Kull seine Hand in die knisternde Masse.
Natur. Was lässt sich einzelnen Individuen zuordnen? Was ist hier nicht Ergebnis einer verflochtenen gemeinsamen Geschichte, in der die Akteure untrennbar mit ihrer Umwelt verbunden sind? Das Ambiente, in dem Kull seine Aufsätze schreibt, spiegelt seine philosophische Überzeugung. Fahl reihen sich die Birken; lautlos, grau und stumm löst sich ein großer Bartkauz von einem Ast. "Lebewesen sind die Gedanken der Natur", hat Karl Ernst von Baer einmal gesagt. l
DAS ESTNISCHE GEN-GESETZ: ANGEBLICH HAT KANZLER SCHRÖDER SICH DEN TEXT SCHON ÜBERSETZEN LASSEN. BEI SCHAFEN IST BISLANG NUR EINER VON TAUSEND KLONEN LEBENSFÄHIG. DER REST DER KÜNSTLICHEN FÖTEN WANDERT IN DEN MÜLL.
Das molekularbiologische Zentrum in der alten estnischen Universitätsstadt Tartu organisiert das Screening.
Der medizinische Leiter des Screening-Projekts, Andres Metspalu (rechts am Fenster).
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